Wir freuen uns sehr, dass Marina Widmer, Soziologin und Leiterin des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte im Jahr 2022 mit dem Kulturpreis der Stadt St.Gallen ausgezeichnet wird. Die Preisverleihung wird im Herbst 2022 stattfinden (Termin wird noch bekannt gegeben).
Mit diesem Preis wird Marina Widmers vielseitiges kulturelles und politisches Engagement gewürdigt: Als Mitbegründerin der Frauenbibliothek Wyborada und des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte sowie weiterer (sozial-)politischer Projekte wie des Solidaritätsnetzes Ostschweiz und des «CaBi Antirassismus Treffs» hat sie wegweisende Projekte auf den Weg gebracht, die die Stadt St.Gallen zweifellos reicher gemacht haben. Als Archivarin, Autorin, Herausgeberin und Ausstellungsmacherin leistete sie zudem Pionierinnenarbeit bei der Erforschung und Vermittlung der Frauen-, Migrations- und Sozialgeschichte der Ostschweiz.
Der Vorstand des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz
Zur Medienmitteilung der Stadt St.Gallen:
stadt.sg.ch/news/stsg_medienmitteilung
Dr., Dr. h.c. Elisabeth Joris, Historikerin
Pfalzkeller im Klosterhof
Sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin, geehrte Mitglieder des Stadtrats und der Behörden, geehrte Gäste, liebe Bekannte und vor allem liebe Marina
Es ist mir eine grosse Ehre, die Laudatio auf die St.Galler Archivarin, Ausstellungskuratorin, Autorin und Aktivistin Marina Widmer halten zu dürfen. Als Historikerin und Feministin bin ich ihr seit den 1990er Jahren über verschiedene Projektarbeiten und das gemeinsame gesellschaftspolitische Engagement verbunden. Mit dem diesjährigen Kulturpreis wird vor allem ihre Tätigkeit als Mitbegründerin und Geschäftsleiterin des Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte ausgezeichnet. Dieses enorme Engagement ist allerdings eingebunden in das viel breitere Interessen- und Tätigkeitsfeld der Soziologin und Historikerin. So möchte ich eingangs versuchen, ihre Vielseitigkeit kurz zu umreissen, eine Vielseitigkeit, von der ich auch über Gespräche mit einigen ihrer engsten Weggefährtinnen geführt habe.
Marina Widmers polivalenter Ideenreichtum ist phänomenal. Und sie ist schnell, ausserordentlich schnell sogar, nicht nur als Ideenlieferantin im Bereich Kultur und Gesellschaftspolitik, sondern auch in der Umsetzung dieser Ideen in konkrete Projekte. Dazu braucht es Geld, und auch in der Geldsuche erweist sich Marina Widmer bis heute erfolgreich, dank der langfristigen Pflege ihres Beziehungsnetzes und ihrer Bereitschaft, die Projekte auch ohne vorgängige finanzielle Absicherung voranzutreiben. Das braucht Hartnäckigkeit. Und gerade diese Hartnäckigkeit ist ein anderes Merkmal ihres Arbeitens wie des Vorantreibens wichtiger Diskussionen, eine Hartnäckigkeit auch, die es ihren Mitstreitenden nicht immer leicht machte. Anderseits ist Fürsorglichkeit ein ebenso starkes Merkmal ihres Schaffens, ebenso ihre Fähigkeit, Andere in ihre Aktivitäten einzubeziehen und deren Engagement anzuerkennen. Statt auf Hierarchie setzt sie beim Delegieren auf Ermächtigung durch Weitergabe von Wissen. Sie weiss zugleich die verschiedenen Kompetenzen ihrer Mitstreiterinnen optimal zur Geltung zu bringen. Statt an den Möglichkeiten der individuellen Karriere orientiert sie sich am Prinzip des Kollektivs, untermauert den Zusammenhalt einer Arbeitsgruppe durch die Verknüpfung von Kopfarbeit und Genuss. Konkret: sie verbindet Projektleitung, Diskutieren, Arbeiten, Streiten mit gemeinsamen Mahlzeiten, in der Regel ein einfaches Essen, von ihr gekocht und seit kurzem gewürzt mit Zutaten aus dem von ihrer Mutter übernommenen Garten. Dank dieser familiären Atmosphäre gelang es ihr, eine eingeschworene Gruppe von Frauen, aber auch Männern, um sich zu versammeln, die mit Enthusiasmus von ihr kreierte Ideen konkretisierten. Diese persönliche Art des Zusammenarbeitens, verstärkt noch durch ihre offene Aufmerksamkeit und ihre lebendige Ausstrahlung, hat das soziokulturelle Klima von St.Gallen mitgeprägt und hat sich zugleich in den von ihr mit initiierten Projekten niedergeschlagen. Der feministische Blickwinkel gepaart mit Solidarität für Migrantinnen und Migranten war dabei der wohl wirksamste Faktor. So erzählen diese Projekte die Geschichte der alten und neuen Frauenbewegung, der Migration, der Arbeiterinnen, verbinden das Lokale mit dem Globalen. Es schwingen dabei ebenso Marina Widmers Verwurzelung in St.Gallen und in Italien, dem Herkunftsland ihrer Mutter und Lebensmittelpunkt ihrer Verwandten, denen sie sich eng verbunden fühlt.
Als Mitbegründerin der Politischen Frauengruppe St.Gallen, kurz PFG, begann Marina Widmer 1980 politisch auf lokaler Ebene Einfluss zu nehmen. Es ging darum, sowohl im Parlament feministische Perspektiven sichtbar zu machen als auch ausserparlamentarisch aktiv zu bleiben. Dem Prinzip der Rotation verpflichtet, sass Marina Widmer zweimal für die PFG für jeweils ein Jahr im Gemeinderat, vertrat diese zudem im Stiftungsrat der Frauenhauses St.Gallen. PFG-intern trieb sie Diskussionen voran, unter anderem durch Schulung im Bereich der feministischen Theorie oder im Bereich der Geschichte der Frauen. Dabei brachte sie immer eine Perspektive mit ein, die weit über das Lokale hinauswies.
Seit Beginn der 1990er Jahre gehörte Marina Widmer des auf nationaler Ebene tätigen Frauenrats für Aussenpolitik an . Als Mitglied der Arbeitsgruppe zur Migration kritisierte sie scharf die europäische Abschottungspolitik, als Mitglied der Arbeitsgruppe Weltwirtschaft lehnte sie ebenso scharf die vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank von den Ländern des Südens eingeforderten Strukturanpassungsprogramme. Deren Budgetvorgaben, sprich erzwungene Einsparungen, schlugen sich vor allem in der Verschlechterung der Alltagssituation der Frauen nieder.
Um eine neue internationale Perspektive nach dem Umbruch im Osten ging es dem Frauenrat mit der 1993 durchgeführten Tagung «Menschenrechte – Frauenrechte». Marina Widmer legte dabei den Fokus auf den Einbezug der geschichtlichen Dimension, eine Dimension, welche die folgende Tagung mitbestimmte, an der sie federführend beteiligt war. Titel: «Faschismus – Feministische Diskussion um einen Begriff und seine heutige Relevanz», ein gerade jetzt wieder höchst brisantes Thema, ist doch Giorgia Meloni zwar die erste Frau an der Spitze der italienischen Regierung, aber als Postfaschistin eine dezidierte Gegnerin aller feministischen Postulate. Auch weitere öffentliche Veranstaltungen des Frauenrates prägte sie mit, so beispielsweise 1996 die Reihe «Die Europa-Diskussion aufbrechen, Fragen zu Migration, Demokratie, Sicherheit, Menschenrechten und Wirtschaft».
Die vom Frauenrat aufgeworfenen Themen fanden ihren Niederschlag in der von Marina Widmer mitbegründeten Zeitschrift Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik, in deren Redaktion sie von der Gründung 1993 bis 2009 mitarbeitete. Die erste Nummer von 1994 nahm unter dem Titel «Frauenrechte sind Menschenrechte» nicht nur die Thematik der ersten Tagung des Frauenrates auf, sondern der Name der neuen Zeitschrift war zugleich eine Referenz auf Olympe de Gouges, welche diesen Anspruch 1791 in Analogie zur Menschenrechtserklärung der französischen Revolution von 1789 unter dem Titel «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin» formuliert hatte. Es war der Auftakt zu unserer langjährigen Zusammenarbeit, redigierten wir doch gemeinsam den grundlegenden Beitrag «Feministische Perspektiven zu Recht und Menschenrechten» von Susanne Baer, inzwischen bekannte Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Berliner Humboldt Universität und Richterin am deutschen Bundesverfassungsgericht. Auch als Redaktionsmitglied brachte Marina Widmer ihre Interessen von verblüffender thematischer Vielfalt ein, von Migration über Architektur und Kunst bis zum neu aufflammenden Nationalismus, Themen, für die sie immer bedeutende Autorinnen zu gewinnen wusste.
Die im Rahmen des Frauenrats und der Zeitschrift Olympe debattierten Fragestellungen brachte Marina Widmer in St.Gallen nicht nur in die PFG ein, sondern ebenso in die Konkretisierung lokaler Projekte, als Mitbegründerin des Solidaritätsnetzes Ostschweiz, als Leiterin der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz, als Koordinatorin der diversen regionalen Referendumskomitees im Asylbereich. Mit ihrer Beteiligung an der Gründung des Antirassismus-Treff CaBi 1993, hat sie einen kulturpolitischen Begegnungsort geschaffen, der heute aus St.Gallen nicht mehr wegzudenken ist, ein Ort auch, in dem die Arbeitsgruppe Syrien/Kurdistan über den Austausch hinaus eine öffentlich zugängliche Bibliothek etablieren konnte. Dieses Projekt ist Resultat von Marina Widmers Haltung, der Ohnmacht mit Handeln entgegenzuwirken, und es funktioniert wie alle von ihr mitinitiierten Projekte als Kollektiv, so auch die Frauenbibliothek und das Frauenarchiv.
Da es in der Kantonsbibliothek Vadiana kaum Literatur von Autorinnen gab, gründete Marina Widmer zusammen mit 13 weiteren Aktivistinnen der feministischen Bewegung in St.Gallen 1986 die Frauenbibliothek Wyborada. Und weil Spuren vergangenen Tätigkeiten von Frauen ebensowenig in den öffentlichen Archiven zu finden waren, schuf sie 1990 mit einigen dieser Aktivistinnen die Dokumentationsstelle zur Geschichte der Frauen in der Ostschweiz und im Fürstentum Liechtenstein, Grundstein des heute noch existierenden Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz, weit herum bekannt als Frauenarchiv. Ohne ihre Bereitschaft, sich trotz äusserst geringer finanzieller Ressourcen mit aller Kraft in diese Projektarbeit zu stürzen, wäre das Frauenarchiv nicht entstanden und würde es heute nicht mehr als selbständige Institution bestehen. Dank ihrer Beharrlichkeit erhielt es zwar öffentliche Mittel zugesprochen, aber über Jahre jeweils nur als Projektbeitrag, nicht als langfristige Finanzierung. Die sich wiederholenden Verhandlungen mit Behörden erwiesen sich für Marina Widmer als energiefressend, ebenso die stetige Suche nach Spenden. Trotz dieser selbstausbeuterischen Bedingungen gab Marina Widmer selbst dann nicht auf, als ein Teil des Vorstands sich für die Eingliederung des Archivs ins Staatsarchiv entschied. Sie setzte sich durch, das Frauenarchiv blieb autonom. Dank ihrem Einsatz gelang es dann auch, eine kontinuierliche öffentliche Mitfinanzierung zu sichern.
Über all die Jahre als Leiterin des Frauenarchivs verlor sie nie den Gesamtüberblick, bis zur kürzlich durchgeführten Schlüsselübergabe lag die Gesamtverantwortung immer bei ihr, auch für die stetig wachsende Zahl an Quellen und Dokumenten, die im Archiv deponiert wurden. Zudem führte das Frauenarchiv unter Einbezug verschiedenster Akteurinnen und Akteure öffentliche Veranstaltungen zur Geschichtsvermittlung durch. Ein immer wiederkehrendes Thema war Migration, aber auch die Diskriminierung der Frauen, wie sie unter anderem in einem langen Gespräch mit der kürzlich verstorbenen ersten Bundesrichterin der Schweiz, Margrith Bigler-Eggenberger zum Ausdruck kam. Eine DVD dokumentiert das von Marina Widmer mit dem prominenten Gast geführte Gespräch. Heute ist das Archiv ein selbstverständlicher Teil der sozial-, frauen- und geschlechtergeschichtlichen Archivlandschaft der Schweiz, wie das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich, das Gosteliarchiv in Wabern bei Bern oder die Archives contestataires in Genf.
Das Frauenarchiv Ostschweiz war über seine Archivfunktion hinaus ein entscheidender Faktor bei der Planung und Umsetzung von Ausstellungen und Buchpublikationen. Zum 200-jährigen Jubiläum des Kantons St.Gallen zeichnete Marina Widmer gemeinsam mit Heidi Witzig verantwortlich für die Herausgabe des Buches «blütenweiss bis rabenschwarz», eine Sammlung von 200 Porträts von St.Galler Frauen verschiedenster Zugehörigkeit, von der Arbeiterin bis zur Präsidentin einer bürgerlicher Frauenorganisation, alle verfasst von verschiedensten Autorinnen. Es vermittelt ein äusserst vielfältiges Bild von Tätigkeiten und Lebenswelten, es erweist sich auch für mich als Historikerin als ein reicher Fundus und anregendes Buch, und zudem ist es ein höchst schön gestaltetes Buch – Ausdruck des ästhetischen Flairs von Marina Widmer, der sich auch in den von ihr mitinitiierten Ausstellungsprojekten zeigt.
Die erste von Marina Widmer und dem Frauenarchiv 2006 organisierte Ausstellung in St.Gallen fand hier im Klosterhof statt. Sie widmete sich unter dem Titel «Nicht die Welt, die ich gemeint» dem Leben und Werk von Elisabeth Gerter, das sich dank auch dem reichhaltigen Materialband in der Ostschweizer Erinnerungskultur etabliert hat. Es war das erste grosse Projekt des Archivs. Der Ausstellung vorausgegangen war die Lesekampagne «Eine Region liest ihr Buch» vom Verein Pantograph, der mit dem 2003 neu aufgelegten Buch von Gerters «Die Sticker» ein höchst originelles Projekt umsetzte. Dieser ersten Ausstellung folgte 2009 zuerst die mit Ostschweizer Ereignissen ergänzte Ausstellung zu Iris von Roten und gleich darauf die Fotoausstellung und Veranstaltungsreihe «Il lungo addio – Der lange Abschied» zur italienischen Migration in der Schweiz. Dieses Thema wurde 2016 mit der Ausstellung «Grazie a voi. Ricordi e Stima – Fotografien zur italienischen Migration in der Schweiz» im Völkerkundmuseum mit Fokus auf die Ostschweiz wieder aufgenommen. Als Kuratorin zeichnete wiederum Marina Widmer, der es in enger Zusammenarbeit mit italienischen Vereinen gelungen war, eine grosse Zahl privater Fotografien zu versammeln, die einen höchst lebendigen Einblick in die verschiedensten Lebenswelten der Migrantinnen und Migranten geben, und so auch von der Eleganz in Kleidung und Auftreten vieler Italienerinnen und Italiener erzählt. Der wie schon das Buch «blütenweiss bis rabenschwarz» vom Limmat Verlag herausgegebene Begleitband ist nicht nur inhaltlich, sondern auch der Gestaltung wegen ein Genuss, schon das Titelbild verweist mit unterschwelligem Humor auf die erwähnte «Eleganz». Und so ist dieses Buch ganz dem Titel «Ricordi e Stima» entsprechend Ausdruck von Erinnerung und Anerkennung zugleich. Als Kuratorin und Projektleiterin der Ausstellung «Klug und Kühn – Frauen schreiben Geschichte» verband Marina Widmer 2021 zur Erinnerung an 50 Jahre Frauenstimmrecht die Ostschweizer Frauenbewegung mit der Geschichte der Frauen in der Schweiz und darüber hinaus. Sie erwies damit zugleich der Geschichte der jüngeren Frauenbewegung in St.Gallen, an der sie erheblichen Anteil hatte, ihre Reverenz.
Es wären noch eine Menge weiterer Publikationen von Marina Widmer sowie von ihr mitbegründeter Projekte zu erwähnen, ich beschränke mich auf ein letztes und wichtiges, da es an die Anfänge ihres Schaffens anknüpft. Statt dass die Frauenbibliothek Wyborada aufgelöst wird, wird sie erweitert und in das 2019 neu initiierte Literaturhaus eingeehen, an dessen Aufbau – wie könnte es anders sein – Marina Widmer einen wichtigen Beitrag leistet. So wird ihr gesellschafts- und kulturpolitisches Engagement auch in Zukunft weitere Blüten hervorbringen – die Verleihung des Kulturpreises der Stadt St.Gallen hat sie aber bereits jetzt mehr als verdient. Abschliessend möchte ich dir, Marina, denn auch ganz herzlich zu dieser hohen Anerkennung gratulieren.